„Sprache ist ein Fenster zur Welt“ [UX‑Writing und Barrierefreiheit]
Ein Gespräch mit Samira Wanzenried – Sprachprofi, Lektorin, praktisch blind.
[Du liest diesen Text mit einem Screenreader? Die Interview-Fragen strukturieren den Text und sind als H4 gekennzeichnet.]
Worte sind mächtig. Für manche Menschen sind sie sogar das Einzige, was ihnen den Zugang zur digitalen Welt ermöglicht.
Samira Wanzenried weiss das besser als viele andere. Sie arbeitet als Terminologin und Lektorin bei einem Bankensoftwarehersteller. Sie liebt Sprache – beruflich wie privat. Und sie bewegt sich täglich in digitalen Umgebungen, ohne sie zu sehen.
Im Interview mit The Gondola erzählt Samira Wanzenried von ihrem digitalen Alltag, und wie gutes UX-Writing helfen kann, digitale Produkte für alle nutzbar zu machen.
Du bist Sprachprofi und praktisch blind. Was bedeutet Sprache für dich persönlich?
Ich habe meine Sehbehinderung seit der Geburt. Mein Sehnerv ist zu dünn und leitet dadurch nur einen Bruchteil der visuellen Informationen ans Gehirn weiter.
Ich nehme Hell-Dunkel-Kontraste wahr. So sehe ich zum Beispiel, ob die Sonne scheint. Auch Umrisse kann ich manchmal erkennen, aber keine Farben, keine Gesichter, keine Details. Ob etwas ein Mensch oder ein Baum ist, weiss ich erst, wenn ich ihn atmen oder sprechen höre.
Den Sehsinn kompensiere ich je nach Situation unterschiedlich: mit dem Gehör, mit dem Tastsinn oder eben auch durch Sprache. Letztere ist für mich ein Fenster zur Welt der Sehenden: Bereits als Kind habe ich leidenschaftlich gern gelesen – ausgedruckte Brailleschriftbücher, in denen jeder Buchstabe als tastbare Punktekombination dargestellt ist.
“Den Sehsinn kompensiere ich je nach Situation unterschiedlich: mit dem Gehör, mit dem Tastsinn oder eben auch durch Sprache. Letztere ist für mich ein Fenster zur Welt der Sehenden.”
Aus diesen Büchern lernte ich so manches, was meine Klassenkamerad*innen sich durch Beobachten aneigneten. Ich erfuhr beispielsweise, dass Sehende manchmal am Telefon unbewusst nicken, obwohl ihr*e Gesprächspartner*in das ja gar nicht sehen kann. Auch geschrieben habe ich immer gerne – mithilfe einer Brailleschreibmaschine, die ein bisschen aussieht wie eine klassische Schreibmaschine von früher.
Du arbeitest als Terminologin und Lektorin bei einem Bankensoftwarehersteller. Was beinhaltet das genau?
Ich arbeite im Team „Translation Services“. Wie der Name sagt, sind wir unter anderem für die Übersetzung von Texten zuständig.
Mein Fokus liegt jedoch auf der Terminologiearbeit. Das heisst, ich definiere und pflege Begriffe aus dem Finanz- und dem IT-Bereich in einer zentralen Datenbank, damit sie einheitlich verwendet werden. Daneben lektoriere und übersetze ich ab und zu Texte, unter anderem Medienmitteilungen, Newsletter und Produktbeschreibungen.
Als Lektorin ist es deine Aufgabe, Fehler zu entdecken und zu korrigieren – ohne die Texte zu sehen, an denen du arbeitest. Wie machst du das?
Dank digitalen Technologien nicht mehr mit der Brailleschreibmaschine [lacht]. Ich nutze assistive Technologien, die mir digitale Inhalte zugänglich machen.
Einerseits einen Screenreader, der mir (fast) alles auf dem Laptop vorliest. Andererseits eine Braillezeile. Das ist ein Gerät, das ich via Bluetooth oder USB-Kabel an den Laptop anschliessen kann. Die Braillezeile zeigt mir den Text auf dem Bildschirm in Brailleschrift an – in Ausschnitten von maximal 40 Zeichen.
„Die Braillezeile zeigt mir den Text auf dem Bildschirm in Brailleschrift an – in Ausschnitten von maximal 40 Zeichen.”
Das ist wertvoll, wenn ich zum Beispiel prüfen möchte, ob in Wörtern wie „war“ und „wahr“ das „h“ korrekt gesetzt ist. Der Screenreader spricht beide Wörter gleich aus – ausser, ich lasse sie mir buchstabieren. Nur mit der Braillezeile kann ich die Schreibweise effizient prüfen, Buchstabe für Buchstabe.
Auch gut zu wissen: Ich arbeite komplett ohne Maus. Stattdessen navigiere ich mittels Tastenkombinationen. Die muss man sich zwar merken, aber wenn sie einer gewissen Logik folgen, ist man damit schneller als so manche*r Mausbenutzer*in. So kann ich beispielsweise auf einer Website mit „h“ von Überschrift zu Überschrift und mit „b“ von Button zu Button springen.
Barrierefreies UX-Writing lernen?
In der UX-Writing Masterclass von The Gondola lernst du, wie du digitale Erlebnisse erschaffst, die für alle funktionieren.
Wie gut funktionieren die assistiven Technologien?
Die funktionieren in der Regel gut. Die Frage ist: Wie gut sind die digitalen Produkte, die ich mit Screenreader und Braillezeile nutze.
Wir führen dieses Interview ja via Zoom. Dieses Programm verwende ich normalerweise selten, aber kürzlich habe ich zufällig schon einmal ein Gespräch via Zoom geführt. Das hat mir Sicherheit gegeben. Denn: Jedes neue Tool ist für mich erst einmal eine Überraschungskiste. Ich kann nie mit Sicherheit sagen, ob die assistiven Technologien damit klarkommen, oder ob irgendwo plötzlich eine Barriere auftaucht.
„Jedes neue Tool ist für mich erst einmal eine Überraschungskiste. Ich kann nie mit Sicherheit sagen, ob die assistiven Technologien damit klarkommen, oder ob irgendwo plötzlich eine Barriere auftaucht.”
Wenn ich im Arbeitskontext ein Programm zum ersten Mal nutze, arbeite ich oft mit Sehenden zusammen. Wir gehen die Benutzeroberfläche gemeinsam durch: Ich höre, was mir der Screenreader sagt, und frage nach, ob das mit dem Bildschirminhalt übereinstimmt. So finde ich heraus, ob meine Benutzererfahrung vollständig ist, oder ob bestimmte Informationen von den assistiven Technologien nicht erkannt werden.
Kannst du ein paar konkrete Beispiele machen? Wo bestehen Barrieren, wo nicht?
Die grössten Hürden bestehen, wenn Software oder Websites nicht barrierefrei sind. Ein Beispiel sind Buttons, die nicht beschriftet sind. Der Screenreader sagt mir dann nur: „Unbeschriftet 1“, „Unbeschriftet 2“ etc. Ich weiss also nicht, was passiert, wenn ich auf die Buttons klicke.
Auch beschriftete Buttons können je nachdem verwirrend sein. Zum Beispiel, wenn auf einer Website mit mehreren Produkten bei jedem Produkt ein Button „Jetzt kaufen“ steht. In diesem Fall muss ich mir mühsam zusammenreimen, welcher Button zu welchem Produkt gehört. Wenn hingegen die Struktur sauber ist und die Texte eindeutig sind, finde ich mich viel schneller zurecht.
„Wenn […] die Struktur sauber ist und die Texte eindeutig sind, finde ich mich viel schneller zurecht.”
Eine weitere Hürde sind nicht barrierefreie Captchas. Diese Tests, bei denen man „alle Bilder mit Ampeln“ oder so anklicken soll. Ja, ich bin ein Mensch! Die Ampeln kann ich trotzdem nicht sehen.
Im Fall von Zoom hat alles gut funktioniert. Ich öffnete die E-Mail-Einladung mit Enter, drückte auf dem Besprechungslink erneut Enter, und der Screenreader las mir sauber vor: „Video einschalten“, „Ton einschalten“ etc. Auch die Navigation jetzt während des Gesprächs klappt reibungslos.
Wie schätzt du den aktuellen Stand der Barrierefreiheit im deutschsprachigen Raum ein? Wo stehen wir?
Ich nehme ambivalente Entwicklungen wahr.
Auf der einen Seite nimmt die Sensibilität für barrierefreie digitale Produkte zu, unter anderem aufgrund rechtlicher Anforderungen. Das ist definitiv ein grosser Fortschritt, der mich sehr freut. Viele Fachpersonen lernen heute bereits in der Ausbildung, dass Barrierefreiheit ein Thema ist, das mitgedacht werden muss.
„Viele Fachpersonen lernen heute bereits in der Ausbildung, dass Barrierefreiheit ein Thema ist, das mitgedacht werden muss.”
Auch sprachlich findet eine Sensibilisierung statt, beispielsweise im Hinblick auf das gendergerechte Schreiben.
Auf der anderen Seite beobachte ich auch eine wachsende Gleichgültigkeit gegenüber Sprache und ihrer Qualität – wobei Sprache ja total wichtig ist für digitale Barrierefreiheit.
Es heisst schnell: „Ist doch egal, obs Typos hat. Man verstehts ja.“ Oder: „Wir lassens schnell DeepL oder ChatGPT machen.“ Das Bewusstsein dafür, dass Sprache präzise, verständlich und fair sein sollte – gerade in digitalen Kontexten –, scheint in diesen Fällen verloren zu gehen.
Die Unterstützung durch KI-Tools ist absolut in Ordnung, sogar wertvoll. Aber das Bewusstsein für die Qualität darf nicht fehlen. Sonst holt uns das irgendwann ein.
Du hast KI erwähnt. Welche Entwicklungen nimmst du im Hinblick auf Barrierefreiheit und Technologie wahr?
Da passiert enorm viel. Auch hier sehe ich sowohl positive als auch negative Aspekte.
Es gibt Apps, die mir beschreiben, was auf einem Foto zu sehen ist, die handgeschriebene Texte erkennen und sie mir vorlesen. Solche Technologien sind im Alltag extrem hilfreich. Etwa wenn ich wissen möchte, wie lange die Waschmaschine noch läuft, oder welche Farbe die Hose hat, die ich gerade aus dem Kleiderschrank genommen habe.
Gleichzeitig gibt es aber auch Entwicklungen, die für mich Rückschritte bedeuten. Immer mehr Geräte – vom Herd bis zum Bezahlterminal im Restaurant – verfügen nur noch über Touchscreens. Ohne fühlbare Tasten, ohne Sprachausgabe. Für mich sind diese Geräte oft unbrauchbar.
Das zeigt: Technischer Fortschritt ist nicht automatisch inklusiv. Er muss bewusst gestaltet werden.
„Technischer Fortschritt ist nicht automatisch inklusiv. Er muss bewusst gestaltet werden.”
Welche Tipps gibst du UX-Writing-Fachpersonen mit?
Denkt nicht nur darüber nach, was ihr sagen wollt, sondern auch wie und für wen. Seid euch bewusst, dass eure Texte auch von Menschen genutzt werden, die nicht sehen, nicht hören oder nicht mit der Maus navigieren können.
Ich zum Beispiel kann mit Screenreader und Braillezeile Fliesstexte nicht überfliegen. Ich muss sie linear lesen – von Anfang bis Ende.
Anders ist es, wenn die Texte klar strukturiert sind. Dann kann ich mit Tastenkombinationen von Überschrift zu Überschrift, von Link zu Link, von Button zu Button springen. Das klappt aber nur, wenn diese Elemente korrekt ausgezeichnet und eindeutig formuliert sind.
Fürs UX-Writing bedeutet das: Sagt das Wichtigste zuerst. Nutzt prägnante Überschriften. Beschriftet Buttons eindeutig. Vermeidet lange Absätze und denkt an eine klare Hierarchie und eine logische Inhaltsabfolge.
„Sagt das Wichtigste zuerst. Nutzt prägnante Überschriften. Beschriftet Buttons eindeutig.”
Wenn das Thema Barrierefreiheit frühzeitig mitgedacht wird – im Konzept, im Text, im Design –, entsteht etwas, das für alle funktioniert. Und das spart am Ende auch Zeit und Geld. Barrierefreiheit und gute Sprache sind wie Zinseszinsen: Wenn man früh anfängt, wächst das Ergebnis langfristig und nachhaltig.
UX-Writing lernen?
Egal ob reinschnuppern oder beherrschen lernen: Bei The Gondola findest du den passenden UX-Writing Kurs für dich und dein Team.
Was wünschst du dir für die Zukunft – insbesondere im Hinblick auf Barrierefreiheit und Sprache?
Ich wünsche mir einen offenen, vernünftigen Umgang mit dem Thema Barrierefreiheit: ohne Dogmatismus, aber mit Bewusstsein.
Es muss nicht alles perfekt sein. Aber vieles lässt sich mit wenig Aufwand so gestalten, dass niemand ausgeschlossen wird. Ein Bezahlterminal mit fühlbaren Tasten stört niemanden. Aber für mich macht es den Unterschied, ob ich selbstständig bezahlen kann oder nicht.
Was die Sprache betrifft, wünsche ich mir mehr Sorgfalt und Verantwortungsbewusstsein, insbesondere im Zusammenhang mit KI. Letztere ist ein mächtiges Werkzeug. Umso wichtiger ist es, auch ihre Grenzen zu kennen. Nur so können wir KI optimal einsetzen: nicht als Ersatz für Sprachspezialist*innen, sondern als unglaublich wertvolles Hilfsmittel.