„UX-Writing ist ein zentraler Hebel für Barrierefreiheit“
Hanna Broman forscht zur Rolle von UX-Writing für die Barrierefreiheit digitaler Produkte. Im Gespräch erzählt sie, worauf es ankommt und wo bestehende Richtlinien wie die WCAG zu kurz greifen.
Hanna Broman, Masterstudentin im Studiengang UX-Design an der Fachhochschule Graubünden, Schweiz (Foto: zur Verfügung gestellt).
[Du liest diesen Text mit einem Screenreader? Die Interview-Fragen strukturieren den Text und sind als H4 gekennzeichnet.]
Hanna, du steckst mitten in deiner Masterarbeit zu UX-Writing und digitaler Barrierefreiheit. Worum geht es dabei genau?
Ich untersuche, welche Bedeutung UX-Writing für die digitale Barrierefreiheit hat – speziell für Menschen mit starker Sehbehinderung oder Blindheit, die digitale Anwendungen mit einem Screenreader nutzen.
Ich analysiere, welche sprachlichen Elemente für diese Zielgruppe hilfreich sind – und wo Sprache heute noch Barrieren schafft.
Warum ist das Thema UX-Writing für die digitale Barrierefreiheit so relevant?
Weil wir in einer digitalisierten Gesellschaft leben, in der der Zugang zu Online-Diensten eine Grundvoraussetzung für soziale Teilhabe ist: ob beim E-Banking, bei Formularen, im ÖV oder bei der Arbeit.
Für Menschen, die nicht sehen können, ist Sprache oft der einzige Weg, sich in digitalen Anwendungen zurechtzufinden. Visuelle Orientierung fällt weg – jedes Wort zählt.
“Für Menschen, die nicht sehen können, ist Sprache oft der einzige Weg, sich in digitalen Anwendungen zurechtzufinden.”
Natürlich spielen Worte auch für Menschen mit anderen Behinderungen eine grosse Rolle. In meiner Masterarbeit konzentriere ich mich aber auf Screenreader-Nutzende.
Welche sprachlichen Elemente spielen für Screenreader-Nutzende eine Rolle?
Alle. Und das ist wichtig zu betonen.
Es geht um sichtbare Texte wie Buttons, Titel, Inhalte, Fehlermeldungen – aber genauso um die Texte, die für Sehende unsichtbaren sind, die aber von Screenreadern vorgelesen werden: Alt-Informationen für Bilder, ARIA-Labels für Bedienelemente oder semantisch korrekte Beschriftungen - also beispielsweise, dass die wichtigste Überschrift als H1 gekennzeichnet ist, die zweite Ebene als H2, und so weiter.
“Es geht um sichtbare Texte wie Buttons, Titel, Inhalte, Fehlermeldungen – aber genauso um die Texte, die für Sehende unsichtbar sind.”
Diese Elemente werden von Screenreadern vorgelesen und bilden die Struktur, durch die Nutzende navigieren. Wenn diese Sprache nicht klar, konsistent und zielführend ist, bleibt die Anwendung unverständlich – oder unbenutzbar.
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Welche Rolle spielt die Struktur von Informationen dabei?
Eine sehr grosse.
Sprache wirkt nicht nur durch die Wortwahl, sondern auch durch die Anordnung. Gerade für Screenreader-Nutzende ist die Reihenfolge zentral, weil sie Informationen oft linear hören.
“Für Screenreader-Nutzende ist die Reihenfolge zentral, weil sie Informationen oft linear hören.”
Ein klassisches Beispiel: Hinweise zur korrekten Eingabe eines Passworts sollten vor dem Eingabefeld stehen – nicht danach, wie es vielerorts üblich ist. Wenn der Hinweis erst kommt, nachdem ich mein Passwort schon eingegeben habe, ist es zu spät. Solche scheinbar kleinen Details haben im barrierefreien UX-Writing grosse Wirkung.
“Wenn der Hinweis erst kommt, nachdem ich mein Passwort schon eingegeben habe, ist es zu spät.“
Screenreader-Nutzende navigieren aber nicht nur linear durch ein digitales Produkt, richtig?
Richtig. Nicht alle Screenreader-Nutzende lassen sich Inhalte linear vorlesen. Viele folgen auch anderen Lesemustern.
Sie hören sich beispielsweise alle Link-Bezeichnungen oder alle Übertitel nacheinander an, um sich zurechtzufinden. Oder sie arbeiten mit der Suche, und suchen nach ganz spezifischen Begriffen.
All diese Lesemuster sollten wir beim UX-Writing berücksichtigen.
“Wenn ein Screenreader beispielsweise einfach 10 Links mit der Bezeichnung ‘Mehr erfahren’ vorliest, wird die Navigation über Links schwierig.”
Wenn ein Screenreader beispielsweise einfach 10 Links mit der Bezeichnung “Mehr erfahren” vorliest, wird die Navigation über Links schwierig.
Ein häufiger Fehler: Ein Titel sieht zwar wie ein Titel aus, ist aber im Code nicht als solcher markiert (z. B. als H1 oder H2). Wenn er korrekt markiert ist, ist das schon ein wichtiger Schritt. Anschliessend muss er dann auch noch inhaltlich klar und aussagekräftig sein.
“Ein häufiger Fehler: Ein Titel sieht zwar wie ein Titel aus, ist aber im Code nicht als solcher markiert (z. B. als H1 oder H2).”
Was bedeutet das für die Disziplin UX-Writing?
UX-Writing ist ein zentraler Hebel für digitale Barrierefreiheit. Wer Texte für digitale Interfaces schreibt, trägt Mitverantwortung dafür, ob Menschen mit Behinderungen Anwendungen eigenständig nutzen können. Gute Worte schaffen Zugang. Schlechte Worte verschliessen ihn, oder reduzieren das Nutzererlebnis oder die Effizienz enorm.
Erst wenn alle Aspekte zusammenspielen – Technologie, Design, Writing – wird ein Nutzererlebnis auch für Menschen mit Behinderung wirklich gut.
“Gute Worte schaffen Zugang. Schlechte Worte verschliessen ihn, oder reduzieren das Nutzererlebnis oder die Effizienz enorm.”
Wie reagieren bestehende Richtlinien wie die WCAG auf diese sprachlichen Anforderungen?
Leider unzureichend. Die bekannten Standards wie die WCAG oder der European Accessibility Act (EAA) sind technisch stark ausgereift – aber auf sprachlicher Ebene bleiben sie oberflächlich.
Es gibt Anforderungen, dass etwa ein Alt-Text vorhanden sein muss, aber kaum Hinweise, wie er formuliert sein soll. Das gilt auch für ARIA-Labels oder die Wortwahl in Systemmeldungen. Sprachliche Qualität wird bisher kaum systematisch adressiert – dabei ist sie zentral für die Barrierefreiheit.
“Die bekannten Standards wie die WCAG oder der European Accessibility Act (EAA) sind technisch stark ausgereift – aber auf sprachlicher Ebene bleiben sie oberflächlich.”
Warum lohnt es sich, sich überhaupt mit digitaler Barrierefreiheit zu beschäftigen?
Ganz einfach: Weil es sehr viele Menschen betrifft – und zwar nicht nur die mit einer dauerhaften Behinderung.
Laut Bundesamt für Statistik leben allein in der Schweiz über 1,7 Millionen Menschen mit einer Behinderung. Dazu kommen temporäre oder situative Einschränkungen – etwa bei Verletzungen oder unter schwierigen Umgebungsbedingungen.
Und: Wer heute barrierefrei gestaltet, ist nicht nur menschlich unterwegs, sondern auch zukunftsfähig und rechtskonform. Denn gesetzliche Anforderungen wie der European Accessibility Act (EAA) machen Barrierefreiheit bald zur Pflicht – nicht nur für Behörden, sondern auch für viele private Anbieter.
“Gesetzliche Anforderungen wie der European Accessibility Act (EAA) machen Barrierefreiheit bald zur Pflicht – nicht nur für Behörden, sondern auch für viele private Anbieter.”
Was genau untersuchst du in deiner Studie – und wie gehst du vor?
Ich arbeite mit blinden und stark sehbehinderten Menschen zusammen und analysiere im Rahmen von User Tests, wie sie bestimmte Textelemente auf Websites wahrnehmen.
Wo verstehen sie sofort, was gemeint ist – und wo nicht? Welche Formulierungen helfen beim Erreichen von ganz bestimmten Tasks, welche verwirren?
Am Schluss möchte ich aus diesen Erkenntnissen konkrete Empfehlungen ableiten: Leitlinien für barrierefreies UX-Writing, die über die bestehenden Standards hinausgehen und wirklich aus Nutzendeperspektive gedacht sind.
Was ist dein Ziel mit der Arbeit zu UX-Writing und digitaler Barrierefreiheit?
Ich möchte die Lücke schliessen, die zwischen technischen Standards und sprachlicher Realität besteht. Mein Ziel ist es, aus der Perspektive von betroffenen Nutzende zu verstehen, was funktioniert – und daraus konkrete Leitlinien für barrierefreies UX-Writing abzuleiten.
“Ich möchte die Lücke schliessen, die zwischen technischen Standards und sprachlicher Realität besteht.”
Gibt es bereits ein paar Erkenntnisse in Form von Tipps und Tricks, die du teilen kannst?
Ich bin noch mitten in der Auswertung, aber ein paar Dinge zeigen sich schon jetzt.
Zum Beispiel: Screenreader-Nutzende gehen sehr unterschiedlich vor. Manche hören sich die Seite linear von oben nach unten an, andere springen direkt zu Links oder Überschriften. Einheitliche Lösungen sind deshalb schwierig – wir müssen beim Writing und bei der Informationsgestaltung alle Navigationsverhalten berücksichtigen und dafür sorgen, dass navigierbare Elemente sinnvoll zusammenspielen.
“Screenreader-Nutzer:innen gehen sehr unterschiedlich vor. Manche hören sich die Seite linear von oben nach unten an, andere springen direkt zu Links oder Überschriften.”
Auch das technische Vorwissen der Nutzenden ist sehr unterschiedlich. Begriffe wie „previous slide“ sind für manche kein Problem – für andere sofort eine Barriere. Ein Beispiel: Ein Tooltip auf einer Website war mit „Hint-Information“ beschriftet. Für einige war das klar, andere sagten direkt: „Oh, lieber nicht anklicken.“
Ein paar erste Tipps:
Buttons klar und im Kontext beschriften – statt nur „Schliessen“, besser „Cookie-Hinweis schliessen“.
Vertraute Begriffe nicht kreativ umformulieren – etwa „zum Warenkorb“ nicht ersetzen. Sonst funktioniert die Navigation über die Wortsuche nicht mehr.
Abkürzungen und Anglizismen sparsam einsetzen – sie können vom Screenreader unverständlich vorgelesen werden. z.B. “2x” (im Sinne von zwei Mal) lieber mit “2 Stück” oder “2 Mal” beschriften.
Kurz gesagt: Klarheit, Kontext und Konsistenz machen einen grossen Unterschied.
Hanna, danke für das Gespräch – wir freuen uns bereits total auf den Leitfaden, der aus deiner Arbeit entstehen wird.
Danke. Ich hoffe, dass meine Arbeit dazu beiträgt, dass Sprache im Accessibility-Kontext die Aufmerksamkeit bekommt, die sie verdient. Denn Zugänglichkeit heisst nicht nur, dass der Zugang möglich ist, sondern auch, dass das Erlebnis effizient und gut ist – für alle.
“Zugänglichkeit heisst nicht nur, dass der Zugang möglich ist, sondern auch, dass das Erlebnis effizient und gut ist – für alle.”
Tiefer tauchen?
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